Berlin - Die schönen Tage von Fernseh-Live-Übertragungen scheinen gezählt. Und mit ihnen der Echtzeit-Fetischismus eines Mediums, das den Zuschauern bei Dschungel-, Casting- und Sportspektakeln durch penetrante Einblendungen versichert, wie unerhört lebensnah, wild und gefährlich es sich doch auf Wohnzimmercouchs vegetieren lässt.
Der Grund für das dräuende Ende der langlebigen Ära der Livehaftigkeit ist gewissermaßen ein leibhaftiger: die entblößte Brust der Sängerin Janet Jackson. Kollege Justin Timberlake war der üppigen Popdiva in der Halbzeit des Super-Bowl-Finals während eines Duetts so treffsicher an die Wäsche gegangen, dass das anerkannt prüde amerikanische Fernsehpublikum ob der daraus resultierenden nackten Tatsachen erschüttert war. Der sittenstrenge Sender CBS hat jetzt aus diesem von US-Medien zur „Nipplegate" stilisierten Causa eine erste, folgenreiche Konsequenz gezogen: Die ursprünglich als Live-Sendung konzipierte Grammy-Verleihung soll so verzögert gesendet werden, dass sprachliche oder optische Obszönitäten rechtzeitig ausgeblendet werden können. Über die Zeitspanne, die das real existierende Geschehen vom Moment der Ausstrahlung trennen soll, herrscht noch Uneinigkeit. Dem Vernehmen nach ist eine Verschiebung um fünf Sekunden wahrscheinlich.
Ob diese Spanne allerdings ausreichend ist, wenn sich der für zwei Grammys nominierte Timberlake bei der Gala einmal mehr inbrünstig in das schwarze Leder-Bustier der als Laudatorin geladenen Miss Jackson verkeilen sollte, vermögen gegenwärtig selbst altgediente Fernsehtechniker nicht auszurechnen. Ungeachtet dieses Restrisikos wissen die Medienmacher darum, dass die Aura des Authentischen mit jedem zusätzlichen Moment schwindet, um den sich das Ereignis in der Wahrnehmung der Zuschauer verspätet. Zudem dürften die Sophisten unter den US-Philosophen erbittert darüber streiten, ob solch ein zeitversetztes Format überhaupt noch das Gütesiegel „Live" tragen darf - oder ob man es künftig schnöde „Aufzeichnung" nennen muss.
Immerhin einer würde aufatmen können, sollte dieses Beispiel auch in Europa Schule machen: „Sportschau"-Moderator Waldemar Hartmann, der sich fürderhin in der Gewissheit von Rudi Völler des überbordenden Weißbier-Konsums zeihen lassen könnte, diese und andere Schmähungen nachträglich zensieren zu können. DW