
Weihrauchstäbchen gehören zu allen Festtagen in Tibet. FOTO – REUTERS
Der Berg leuchtet. Tausende Tibeter kommen am Berg Bumpari zusammen, um ihr traditionelles Neujahrsfest zu feiern. Sie ziehen ihre Gebetsfahnen in blau, rot, grün, gelb und weiß hinter sich her; Schritt für Schritt geht es nach oben, gen Sonne.
Oben, auf dem Plateau, trüben kleine Weihrauchfeuer. Mönche singen ihre Gebete; Pilger, die von weit her gekommen sind, bedeckt vom Staub der langen Reise, stehen Schulter an Schulter mit den in feinste tibetische Seide und Pelzkleider gehüllten Bewohnern von Lhasa. Lautstark wird das neue Jahr angerufen. Die Menschen werfen Gebetsnoten hoch in die Luft, wo sie vom strengen Wind davongetragen werden.
Das Klingeln eines Ericsson– Mobiltelefons stört für einen Moment die Gesänge und Gebete: Ein Geschäftsmann aus Lhasa nimmt einen Anruf entgegen. Moderne Zeiten auf einem heiligen Berg hundert Meter über der Stadt.
Das Neujahrsfest, das in diesem Jahr am 24. Februar beginnt, bildet den absoluten Höhepunkt im tibetischen Festtagskalender. Schon Tage vor „Losar“, wie die Einheimischen es nennen, werden die Häuser geputzt, auf die Hausaltäre Mehl, Getreide, Ginseng und Butter gestellt und Glückssymbole mit Kreide auf Türen und Wände gemalt. Der letzte Tag des Jahres wird mit einem opulenten Mahl verabschiedet.
Dann ist es endlich so weit: Das Neujahrsfest dauert eine Woche und wird mit Veranstaltungen wie Pferderennen, Ringen und Bogenschießen gebührlich gefeiert. Natürlich findet Tourismus statt. Tibetische Familien laden sich und ihre Freunde gegenseitig ein. Bei diesen Gelegenheiten fließen Unmengen Chang – das Gerstenbier wird selbst gebraut und kommt auf 15 bis 20 Prozent Alkoholgehalt. Die Wirkung ist umwerfend. Gute Wünsche begleiten die Feierlichkeiten und werden verschwenderisch in den Mund genommen: „Losar Zang“ heißt übersetzt ein glückliches neues Jahr, „Tahsi Dele“ Glück und Wohlergehen.
Neujahr bedeutet auch, ihm ganz nah zu sein – dem Dalai Lama. Tausende Pilger nutzen die Gelegenheit, am „Tag der offenen Tür“ den Potala auf dem „roten“ Berg Marpori aufzusuchen. Vor seiner Flucht nach Indien war Potala, der Winterpalast, das Zuhause des Oberhaupts der tibetischen Kirche. Der Potala überragt und dominiert Lhasa, und er ist zu Recht das Wahrzeichen Tibets.
Irgendwann ist alles vorbei. Lhasa und seine Menschen verfallen wieder in ihren gemächlichen Alltagstrott. Aber das macht nichts, denn bis zum nächsten Fest ist es bestimmt nicht allzu lang. Die Buddhisten bereiten schon ihr traditionelles Mönlam – das Fest des Großen Gebets – vor. Tibeter feiern gern.
Dermot Tatlow, DIE WELT